DKG Society International Germany

Internationale Gesellschaft für Frauen im Bildungsbereich

13.10.2014

„Berührung der Zeit – Zeit für Berührung“

war das Thema des diesjährigen Sänger- und Tanzfestes in Tallinn, das traditionell alle 5 Jahre begangen wird.

Die Eröffnung des Tanzfestes beginnt Freitagabend mit dem Einzug aller Tanzgruppen auf dem Rasen eines großen Stadions. Dieser scheint zunächst kein Ende zu nehmen, bis schließlich die über 9000 Tänzerinnen und Tänzer in ihren farbenprächtigen Trachten Aufstellung genommen haben. Dann wird – ähnlich wie bei Olympia – von einer Fahrradstaffel ein Feuer ins Stadion gebracht und auf einem Hügel feierlich entzündet.

Mit Worten sind die Darstellungen kaum zu beschreiben – es werden nicht einfache Volkstänze, wie manche von uns sie vielleicht noch aus eigener Kinderzeit kennen, gezeigt – es sind beeindruckende Formationen und Bilder, die tanzend auf dem Rasen entstehen. Besonders erstaunlich fand ich die große Zahl an Jungen- und Mädchengruppen, z.B. tanzten über 1200 Zweit- und Drittklässler zusammen, „Karjapoissi“, eine „Herde Jungen“ von rund 1000 Mitwirkenden, ein Tanz mit 3100 Jungen und Mädchen. Besonders gefallen hat mir eine Darbietung von rund 400 jungen Mädchen – Teenagern – alle mit Zöpfen, in weißen Kleidern und langen schwarzen Schals, mit denen sie fliegende Vögel darstellten. Den Choreographen und Lehrern gebührt besonderer Respekt!

Am Samstagmittag versammeln sich traditionell alle Akteure – Orchester, Tanzgruppen und Chöre aus allen Landesteilen, auch Gastgruppen aus Skandinavien, USA, Kanada und Australien (wohin viele Esten immigrierten) und ziehen singend und Fahnen schwenkend von der Stadtmitte zum ca. 4 km entfernten Festplatz.

Diesem Festzug haben auch wir, mein Mann und meine Freundin Ingrid, uns angeschlossen. Vorher hatten uns unsere DKG – Freundinnen Anu Ariste und Anu Joon schon darauf eingestimmt. Anu A. nahm selber mit Kindern ihrer Schule teil. Ein anderer estnischer Freund, auch ein früherer Chorsänger, führte uns durch die Tallinner Altstadt.

Die Wurzeln des Sängerfestes liegen in den evangelischen Kirchenchören Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Sangesfreude konnte sich bei allen drei baltischen Völkern so ausbreiten, dass es 1989/90  in Estland, Lettland und Litauen zu einer „singenden Revolution“ kam, der die Sowjetideologie nicht standhalten konnte: 1990 kamen in Estland 300 000 Zuhörer und Mitsingende zusammen (bei einer Bevölkerung von ca. 1,3 Mill.)!

Heute – 2014 – treffen sich Hunderte Chöre mit ca. 22 000 Choristen und ca. 90 000 Zuhörer. Bekannte Volkslieder und anspruchsvollere Chorliteratur stehen auf dem Programm. Wie beim vorhergegangenen Tanzfest ist die Beteiligung der Jugend erstaunlich. 198 Kinder- und Jugendchöre mit fast 7500 Mädchen und Jungen sangen gemeinsam. Den Esten ist es gelungen, fröhliche Kinderstimmen über die Stimmbruchzeit in die Erwachsenenchöre überzuleiten – eine beachtliche schulisch-pädagogische Leistung auf der gesamten Landesebene. Monatelange Vorbereitungen und Ausscheidungsproben gehören dazu, es ist für alle eine Ehre, dabei sein zu dürfen. Wo sind Hausmusik und Musik in der Schule bei uns geblieben?

Natürlich hat das Singen der kleinen baltischen Völker auch eine besondere politische und emotionale Seite. Wer über Jahrhunderte von allen Seiten bedrängt wird, braucht eine wenig angreifbare Identifikation. Singen zu verbieten, ist schon sehr schwierig.

„Mu isamaa on minu arm“ – Mein Vaterland ist meine Liebe!

Wenn über 100 000 so singen, Hand in Hand, spürt man ihre Verbundenheit. In 5 Jahren kann man sich wieder von der Zeit berühren lassen.

Gisela von Engelhardt